Corona: „Immer mehr Palästinenser erwägen die Flucht nach Europa“
E.er nimmt sein Amt nicht so an, wie er sein will. Als Philippe Lazzarini im April Leiter der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge UNRWA wurde, stand die Organisation erneut kurz vor dem Bankrott und das neue Koronavirus hatte gerade begonnen, sich in den Lagern zu verbreiten. Aber nach den Bemühungen in Ruanda, im Irak und im Libanon sind die Schweizer gut auf Krisen vorbereitet. Warum besucht er Deutschland in seinem neuen Büro als eines der ersten europäischen Länder, und das für einige Tage? „Deutschland ist nicht nur einer unserer wichtigsten Geber“, sagt Lazzarini per Videolink. „Die Bundesrepublik ist heute ein wichtiger Akteur im Nahen Osten.“
WELT: Herr Lazzarini, Sie haben inmitten der Pandemie Ihre neue Rolle übernommen. Wie ist die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern?
Philippe Lazzarini: Corona impliziert eine zusätzliche Dimension der Verzweiflung für palästinensische Flüchtlinge. Immerhin waren sie bereits von einer anhaltenden Wirtschaftskrise betroffen, einer Pandemie des völligen Elends. Darüber hinaus gibt es in vielen Gastländern wie dem Libanon oder dem Krieg in Syrien politische Krisen. In beiden Ländern war die Situation vor Corona so dramatisch, dass die Menschen ihre Nahrungsaufnahme weiter reduzieren mussten. Viele Familien können sich nur eine Mahlzeit pro Tag leisten. Fleisch ist für sie nicht mehr erschwinglich. Und das schon lange. Und dann kam Corona.
WELT: Wie entwickelt sich die Pandemie in den Lagern?
Lazzarini: Die Zahl der Infektionen mit dem neuen Koronavirus bricht derzeit aus. Bis Juli hatten wir nur 200 Fälle der 5,6 Millionen Flüchtlinge gezählt, die wir betreuen. Heute wurden bereits 9.000 Infektionen registriert. Dies entspricht einer mehr als 40-fachen Steigerung in weniger als drei Monaten. Mehr als zwei Drittel der Fälle wurden im Westjordanland entdeckt.
Besonders besorgniserregend ist jedoch, dass wir jetzt die ersten Fälle im Gazastreifen registriert haben. Da das Gebiet weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten ist, war es auch weniger anfällig für die Verbreitung des Virus. Wenn es sich jetzt nach Gaza ausbreitet, könnte es dramatische Folgen haben. Der Küstengürtel ist besonders dicht besiedelt und schwer medizinisch zu versorgen.
WELT: Sind Sie überhaupt für die Pandemie gerüstet?
Lazzarini: Es gibt auch immer mehr Infektionen bei unserem medizinischen Personal. Wir haben jetzt wo immer möglich auf Telemedizin umgestellt. Wo immer möglich, werden den Empfängern auch Medikamente, Lebensmittel und Geldtransfers zugestellt. Wir brauchen aber auch dringend mehr Hilfe von der internationalen Gemeinschaft.
Uns fehlen Desinfektionsmittel für unsere Depots und Schutzausrüstung für unser medizinisches Personal. Wir brauchen auch mehr Lehrer und eine bessere Infrastruktur für den digitalen Unterricht. In vielen Gastländern beginnt das Schuljahr wieder und natürlich sind wir weit davon entfernt, allen Schülern zu Hause einen Computer oder ein Tablet anbieten zu können.
WELT: Können Sie erklären, warum sich das Virus in den palästinensischen Lagern so schnell verbreitet?
Lazzarini: Wir erleben jetzt in vielen Ländern einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen. Bei den Palästinensern gibt es einen besonderen Umstand: Es gibt keine staatlichen Hilfspakete für sie, da in anderen Ländern die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gemildert wurden. Aufgrund eines akuten Bedarfs werden viele Palästinenser zunehmend nachlässig.
Sie sagen uns: Wie soll ich Kontaktbeschränkungen einhalten, wenn meine Kinder nichts zu essen bekommen? Corona ist auch ein weiterer Faktor, der Palästinenser in Lagern immer dazu bringt, über eine Flucht nach Europa nachzudenken. In letzter Zeit sind immer mehr Menschen mit dem Boot in den EU-Staat Zypern gefahren, zum Beispiel in den Libanon.
WELT: Sehen Sie eine Welle palästinensischer Flüchtlinge, die sich Europa nähern?
Lazzarini: Das kann ich noch nicht sagen. Aber es gibt einen neuen Trend. Besonders im Libanon, wo sich das Land in einer tiefen Krise befindet, hoffen nicht nur immer mehr Libanesen, irgendwie nach Europa zu kommen, sondern auch syrische und palästinensische Flüchtlinge. Wir sehen immer mehr Demonstrationen, auch von Palästinensern, vor westlichen Botschaften in der Hauptstadt Beirut. Dort beantragen sie dann ein Visum oder ein anderes Einreisemittel. Sie demonstrieren vor allem vor den Vertretungen Kanadas, der skandinavischen Länder und Deutschlands.
WELT: Was ist mit der Hilfe der Araber am Golf für die Palästinenser? Sie waren lange Zeit wichtige Geber, aber viele Palästinenser sehen den Friedensvertrag zwischen den VAE und Bahrain als Verrat an.
Lazzarini: Die Vereinten Nationen auf der rechten Seite haben die Abkommen zwischen den beiden Golfstaaten mit Israel begrüßt. Aber viele Palästinenser befürchten, dass sie jetzt verlassen werden. Ich habe mich kürzlich mit den Außenministern der Arabischen Liga getroffen und ihnen gesagt, dass Spenden uns helfen, die Stabilität im palästinensischen Volk aufrechtzuerhalten.
Indem wir diesen Menschen Perspektiven für die Zukunft geben, bewahren wir auch die sozialen Bedingungen, die für einen friedlichen Übergang erforderlich sind, sobald sich die Dinge zwischen Israelis und Palästinensern grundlegend ändern. Leider befindet sich die UNRWA seit Jahren in einer existenziellen Finanzkrise. Wir haben ein Budget von ungefähr 1 Milliarde US-Dollar pro Jahr, aber wir haben immer ungefähr 100 Millionen US-Dollar zu wenig. Wir können nur etwa zwei Wochen im Voraus planen. Wir sind immer kurz vor einer Kollision.
WELT: Und bekommen Sie jetzt mehr Geld von den Golfarabern?
Lazzarini: Nachdem die USA ihre Spenden im Jahr 2018 vollständig eingestellt hatten, gab es eine große Welle der Hilfsbereitschaft und höhere Beiträge aus Europa und den Golfstaaten. Dies machte 2018 sogar zu einem besonders guten Jahr für uns. Aber die Golfstaaten haben diese Zuschüsse letztes Jahr nicht auf dem gleichen Niveau gehalten. Um mehr Stabilität zu gewährleisten, möchte ich erstmals einen mehrjährigen Finanzplan vorlegen. Dafür brauche ich aber auch langfristige Finanzierungszusagen.
WELT: Es gibt immer Kritik an ihrer Organisation. Zum Beispiel, dass UNRWA-Schulen Bücher verwenden, die das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen oder antisemitische Passagen enthalten.
Lazzarini: Solche Fälle werden auch verwendet, um unsere Arbeit als Ganzes zu diskreditieren. Obwohl diese Bücher in unseren Schulen verwendet wurden, wurden sie nicht von der UNRWA entwickelt oder veröffentlicht, sondern von den palästinensischen Bildungsbehörden und denen der Gastländer. Wir achten sehr darauf, an unseren Schulen keine Inhalte zu unterrichten, die den Grundsätzen der Vereinten Nationen widersprechen.
Zu diesem Zweck haben wir beschlossen, insgesamt 86 palästinensische Lehrbücher zu überprüfen. Überall dort, wo wir Problembereiche finden, weisen wir die Lehrer an, diese Inhalte nicht weiterzuleiten. Wir stellen ihnen auch zusätzliche alternative Materialien zur Verfügung, damit sie solche Präsentationen in den richtigen Kontext stellen und kritisches Denken lernen können. Die EU prüft derzeit auch palästinensische Lehrbücher. Wir werden Ihren Empfehlungen folgen. Ich habe auch einige dieser inakzeptablen Passagen in meinen Gesprächen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde angesprochen.
Die Verantwortung der US-Regierung hat uns gerade bewiesen, dass der Unterricht an unseren Schulen insgesamt den UN-Grundsätzen voll und ganz entspricht. Besser, um vorhandene Inhalte zu verbessern und Kindern zu helfen, kritisch zu denken, wie es die UNRWA-Lehrmethoden tun. Was wäre die Alternative, wenn wir Kindern in Gaza keine Bildung bieten würden?
WELT: Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass einige Ihrer Mitarbeiter eine äußerst kritische Beziehung zu radikalen palästinensischen Organisationen oder zu Israels Feinden haben. Der Fall eines Ihrer Mitarbeiter in den USA, der auf einem von der Anti-Israel-BDS-Boykottinitiative organisierten Seminar sprechen sollte, ist gerade bekannt geworden.
Lazzarini: Hier geht es nicht um einen Mitarbeiter der Vereinten Nationen oder der UNRWA, sondern um die UNRWA USA. Dies ist ein privater Verein, der Spenden für die UNRWA sammelt. Als wir von dem Fall hörten, kontaktierten wir den Verein. Nach öffentlichen Reaktionen beschloss der ernannte Mitarbeiter, nicht am Seminar teilzunehmen.
WELT: Ist sie noch bei der UNRWA USA beschäftigt?
Lazzarini: Ich bin mir nicht sicher, aber ich bezweifle es.
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